Die sogenannte Reichspogromnacht fand zwar schon am 9. November vor 80 Jahren statt, zum allgemeinen Gedenken an die Opfer dieser Ausschreitungen gab’s im 24. Stadtbezirk aber erst am folgenden Sonntag eine kleine Gedenkveranstaltung, erneut bei der letzten alten Baracke des ehemaligen KZ-Außenlagers Dachau-Karlsfeld in der Siedlung Ludwigsfeld, Granatstr. 10. Es kamen an die 40 Personen aus nah und fern.
Durch die Gedenkveranstaltung am Sonntag, den 11. November führte Klaus Mai, Historiker und Vorsitzender des Unterausschusses „Kultur & Budget“ im hiesigen Bezirksausschuss. Er hat auch die sieben Kurzbiografien recherchiert und geschrieben, die bei der diesjährigen Gedenkfeier von verschiedenen Personen (u. a. Gabi Meissner, Markus Auerbach und Manfred Grunert von BMW sowie Myriam Gerber, Kultur- und Sozialwissenschaftlerin von der Concordia-Universität Toronto und die Kulturwissenschaftlerin Libi Veprek, München/New York) vorgelesen wurden. Stellvertretend erinnert wurde an: Josef Goldstein, einen jüdischen Mitbürger aus Feldmoching, an die Brüder Sigwart und Paul Steinharter, denen bis 1936/37 das deutschlandweit bekannte Melassewerk gehört hatte, sowie an die jüdischen Kriegsgefangenen und/bzw. KZ-Häftlinge Wassilij Iwanenko, Andor Moskovits, Leonid Epifanow, Nikolai Jurtschenko und Isaak Smilovits, die aus der Sowjetunion oder aus Ungarn stammten. Wir veröffentlichen im Folgenden die zwei für Feldmoching interessanten Kurzbiografien.
Josef Goldstein, jüdischer Mitbürger, KZ‐Häftling # 23099
Josef Goldstein wurde am 13. Oktober 1875 in Crailsheim geboren und wohnte ab dem 1. Januar 1889 mit seinen Eltern in München in der Friedrichstr. in Schwabing. Er besuchte sieben Jahre die Volks‐und Realschule. Seit dem 5. November 1902 betrieb er an der Schleißheimer Str. 102 ein Kurz‐, Weiß‐und Wollwarengeschäft. Von 1915 bis 1918 nahm er als Angehöriger des 1. Landsturm‐Infanterie‐Regiments am 1. Weltkrieg teil. 1932 erwarb Goldstein in Feldmoching drei Grundstücke und errichtete auf einem ein Zweifamilienhaus. 1934 bezogen Goldstein und seine Frau dieses Haus an der Grashofstr. 219.Nachdem er das Gewerbe altersbedingt am 10. August 1937 abgemeldet hatte, verkaufte er im Frühjahr 1938 sein Geschäft an Karoline Erhardt, behielt aber Restbestände seines Textillagers. Am 9. November 1938 versiegelte der Feldmochinger NSDAP‐Ortsgruppenleiter Mannweiler das Lager. Josef Goldstein kam als „Aktionshäftling“ am 12. November 1938 ins KZ Dachau. Von dort wurde er am 1. Dezember des Jahres entlassen.
Am 14. April 1939 erschien der Nachbar und Kraftfahrer Konrad Egersdörfer bei der Gestapo München. Er denunzierte Goldstein, dass er aus dem „von seinem früheren Geschäft herrührenden Warenbestand (…) im Wert von etwa 3.000 RM (…) an Einwohner von Feldmoching, z. B. Kornprobst, Hartinger, Sattlermeister, Waren verkauft hat. (…) Diese Ware [war] im November 1938 von dem Ortsgruppenleiter Mannweiler in Feldmoching beschlagnahmt worden.“ Egersdörfer erklärte weiter: „Goldstein fährt fast täglich mit einem Fahrrade in die Stadt und führt dabei auf dem Gepäckträger eine große graue Segeltuchtasche mit, in der er vermutlich auch Textilien zum Verkaufe mitnimmt.“ Weiter führte er aus: „Es ist mir ferner aufgefallen, dass die Schwestern des Kinderhortes, der dem Pfarramt Feldmoching untersteht, täglich bei Goldstein ein‐und ausgehen und sich in dessen Wohnung längere Zeit aufhalten.“ Egersdörfer wunderte sich über den Besuch der Schwestern, weil es im Hause Goldstein keine Kinder gab. Egersdörfer vermutete, dass Goldstein sein Vermögen der kath. Kirche vermachen wollte und stellte die Schwesternbesuche damit in Zusammenhang. (Tatsächlich versorgten die Schwestern die Familie mit Essen!)
Goldstein musste schließlich 1939 sein Haus und seine drei Grundstücke in der Grashofstr. 219 an die „Vermögensverwertung München GmbH“ [Gesellschaft zur Enteignung jüdischen Vermögens, gegründet von Adolf Wagner, NSDAP Gauleiter] abgeben. [Aus den arisierten jüdischen Immobilien kaufte sich ein Ludwig Oberleitner und ein Josef Obersojer gemeinsam 1940 das Haus von Sisa Hofheimer in der Schwanthaler Str. 45.] Auf Vorschlag der Industrie‐und Handelskammer musste Goldstein über einen „Abwickler“ – das Textilhaus August Hartwig – seine Warenbestände der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zum Kauf anbieten. Die IKG kaufte schließlich im Juni 1940 Waren im Wert von 569,50 RM für 200 RM, die Zweckvereinigung Gebrauchtwarenhandel den Rest.
Josef Goldstein überlebte, weil seine Ehefrau „Arierin“ war und sich nicht von ihm scheiden ließ. Er verstarb am 16. Dezember 1962 in München und ist auf dem Feldmochinger Friedhof beerdigt.
Sigwart und Paul Steinharter, Geschäftsleute, jüdische Mitbürger
Den Brüdern Sigwart (geb. am 29. Mai 1887 in München) und Paul Steinharter (geb. am 21. Oktober 1894 in München) wurde im Dritten Reich zwar nicht das Leben geraubt, aber sie verloren ihre Heimat, große Teile ihres Vermögens, das Ansehen und nicht zuletzt ihren Namen. Denn in Feldmoching erinnerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg keiner mehr an sie.
Sigwart Steinharter war mit Alice Steinharter verheiratet [geboren am 30. Dezember 1894 in Straßburg, gestorben 1987 in New York in großer Armut]. Ihre gemeinsame Tochter Marion lebte in der Schweiz. Paul Steinharter war mit Mimi Patzak, geb. Walter, verheiratet. Ihrer beiden Söhne, Fritz (geb. 19.2.1922 in München) und Walter Louis (geb. 15.7.1925 in München) waren vom 8. Januar 1936 bis 22. Oktober 1937 bzw. bis 1938 in Kloster Ettal im Internat, da die Mutter katholischen Glaubens war. Ihre Söhne traten am 1. Juni 1935 zum katholischen Glauben über. (Anm. d. Red. Für jüdische Kinder war es in der Nazizeit schwierig, eine höhere Schule zu besuchen. Schon mit der „1. Verordnung zum Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 wurde die Zahl der Neuaufnahmen jüdischer Schüler an höheren Schulen und Hochschulen auf 1,5 % beschränkt).
Das Feldmochinger Melassewerk, das der Firma Louis Steinharter und damit nach dem Tod des Vaters Louis (geboren 14.6.1851, verstorben 1915) den beiden Brüdern gehörte, war vor der Machtübernahme der Nazis ein großer Arbeitgeber, vor allem aber ein großer Abnehmer landwirtschaftlicher Produkte, auch aus Feldmoching. Der geheime Kommerzienrat Eugen Zentz kaufte dieses Werk 1936, als es aufgrund der jüdischen Besitzverhältnisse nicht mehr von den Bauern beliefert werden durfte und damit stilllag.
Den Brüdern Sigwart und Paul Steinharter gehörte aber nicht nur das Melassewerk in Feldmoching, damals das zweitgrößte Futtermittelwerk in Deutschland, sowie die Vulcanolwerke AG, sondern auch viele Immobilien in München (u. a. Richard‐Wagner‐Str. Nr. 18, Arcisstr. 64, Bauplätze in Feldmoching und Bogenhausen in der Keplerstr., Beetzstr., Udalrichstr. etc.), sowie in Feldafing eine Villa.
Die Brüder Sigwart und Paul Steinharter wanderten mit ihren Familien 1937 bzw. Anfang 1938 nach New York aus und wurden amerikanische Staatsbürger. Ihre Söhne kämpften in der US‐Armee gegen Deutschland. Sigwart und Paul Steinharter kamen nach dem Krieg nicht mehr nach Deutschland. Die Mutter von Sigwart und Paul Steinharter Lina (geboren am 9. Juli 1860 in Elchingen), geborene Hausmann, die sich in den USA dann Lea Steinharter nannte, hatte noch am 18. August 1941 mit dem Schiff „Exeter“ nach NY zu ihren Söhnen flüchten können.
Gerechtigkeit widerfuhr den Brüdern aber auch nach dem Kriege nicht (immer). Nach einem in die Länge gezogenen Restituierungsverfahren in Sachen Feldmochinger Melassewerk wurde den Brüdern 1957 ein leeres Aktienpaket übergeben. Die Firma selbst war schon längst an den heutigen Paul‐Huml‐Bogen verlagert worden. Im Gerichtsverfahren wurde den Antragstellern Steinharter aufgegeben zu beweisen, dass sie die fraglichen Aktien jemals besessen haben. Das Gericht stellte fest, dass behördlicherseits alle fraglichen Beweise entweder durch Kriegseinwirkungen verbrannt oder nicht mehr auffindbar waren. (WB I IR 2655 – Alle Akten sind im Archiv nebst Grundbuchauszug vollständig erhalten!)
Die Louis Steinharter OHG (Sigwart und Paul Steinharter, New York) verkaufte ein Grundstück über 840 qm an der Udalrichstr. an Nagl Theobald, Bäckermeister, und dessen Ehefrau Anna, geb. Schollweck in München‐Feldmoching, Elsenstr. 524 [heute Udalrichstr. 108 (111)], und ein Wohnhaus mit Garten. Die Zahlung des Kaufpreises erfolgte nur zur Hälfte.
Bezüglich des Grundstücks an der Udalrichstr. fällte das Gericht folgende Entscheidung: Ein Rückübertragungsanspruch wegen des nur zur Hälfte gezahlten Kaufpreises wird abgelehnt. Eine Individualanmeldung konnte bei der Wiedergutmachungsbehörde Bayern nicht festgestellt werden, da der Aufenthalt der Verfolgten nicht zu ermitteln war.
Hinweis: Auch hier waren alle prozessrelevanten Angaben vorhanden. Der Aufenthalt der Steinharters war, da sie viele Restituierungsprozesse führten, jederzeit den Akten zu entnehmen.
Fotos: Gerlinde Dunzinger