Den Staumeldungen des Pfingstwochenendes nach hat halb Bayern fluchtartig am Freitag bzw. Samstag den Freistaat gen Süden verlassen. Ein paar Interessierte fanden sich aber immerhin am Pfingstsonntag zur Mittagszeit in der Kapernaumkirche zu einer außergewöhnlichen Orgelmatinee ein, die unter die Haut ging, auch wenn sie den Zuhörer mit dem Concert Piece von Flor Peeters letztlich mit hoffnungsvolleren, helleren Orgeltönen entließ. „Coventry, im Licht der Versöhnung“, lautete das Thema der musikalischen Stunde, zusammengestellt und gespielt von Kantor Aribert Nikolai. Sprecherin war Andrea Klein.
Es war der 14. November 1940 als die britische Industriestadt Coventry von der deutschen Luftwaffe angegriffen wurde. Die Stadt war „kriegswichtig“ für England – dort wurden Flugmotoren gefertigt. Sie war in einem anderen Sinne aber auch kriegswichtig für Nazideutschland, das sich mit Großbritannien im Krieg befand und den Gegner schwächen wollte. Um 19.12 Uhr heulten an diesem Abend in Coventry die Sirenen. „Operation Mondscheinsonate“ begann.
515 Flugzeuge fliegen auf Coventry zu. Sie bombardieren die Stadt, die rund 150 km nördlich von London liegt, elf Stunden lang und werfen in der Zeit 500 Tonnen Sprengbomben, 50 Luftminen und 36.000 Brandbomben ab. Schon bald wüten mehr als 200 Großfeuer. 550 Menschen sterben, an die Tausend werden verwundet. 43.000 Häuser und Hunderte von Straßen werden zerstört. Auch die spätmittelalterliche St. Michael’s Cathedral liegt in Schutt und Asche. Stehen blieben nur der große Turm und einige Außenmauern.
Nach einem Einleitungsstück von John Stanley spielte Kantor Aribert Nikolai auf dem E-Piano den weltberühmten 1. Satz von Beethovens Mondscheinsonate, die als unfreiwillige Namensgeberin für diese barbarische Aktion herhalten musste. Über dieses für einen ersten Sonatensatz ungewöhnlich langsame Musikstück, das nicht zuletzt aufgrund der Molltonart geheimnisvoll dunkel und auf den ein oder anderen Hörer wegen der durchgängigen Triolen in der rechten Hand unter der musikalischen Oberfläche fast bedrohlich wirkt, legte Sprecherin Andrea Klein mit ruhig getragener Stimme einen Text, der an diese schrecklichen elf Stunden der Bombardierung erinnerte.
Coventry steht für Zerstörung wie Versöhnung
Coventry wurde zum Symbol der Zerstörung – Propagandaminister Joseph Goebbels kreierte dafür das Wort „coventrieren“ –, aber auch zum Symbol der völkerweiten Versöhnung, der Vergebung und der Hoffnung. Bei Aufräumarbeiten in der Kirche fand der damalige Dompropst Richard Howard drei große Zimmermannsnägel, die bis zu diesem Zeitpunkt die Dachbalken aus dem Mittelalter zusammengehalten hatten. Er ließ sie zu einem Kreuz zusammensetzen, das bis heute als Zeichen der Versöhnung und des Friedens gilt und weltweit bekannt ist, erkennt man in dem Nagelkreuz doch das menschliche Leid wieder, wie Pfarrer Markus Eberle erläuterte. Das Kreuz wurde in viele Städte gebracht, auch nach Dresden, Berlin und Hamburg.
Denn 1974 gründete sich, so erklärte Pfarrer Eberle, die internationale Gemeinschaft vom Nagelkreuz, der inzwischen über 160 Kirchen und Organisationen in 30 Ländern angehören. 70 Nagelkreuzzentren gibt es in Deutschland, darunter die Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Dort gibt es freitags immer um 12.30 Uhr ein Versöhnungsgebet und jeden ersten Freitag im Monat um 14.30 Uhr eine Nagelkreuzandacht.
Das 1958 formuliert Versöhnungsgebet von Coventry, das seitdem an jedem Freitagmittag im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale in Coventry und in vielen Nagelkreuzzentren der Welt gebetet wird, floss ebenso wie Worte aus der Hl. Schrift in Lothar Graaps „Botschaft der Versöhnung. Triptychon für Orgel und Sprecher“ ein. Geschrieben wurde es zum 40. Jahrestag der Bombardierung im Jahr 1980. Es ist ein verstörendes, größtenteils düsteres, aber auch sehr eindringliches Werk in drei Teilen für zwei Instrumente: die Orgel und die menschliche Stimme. Es beginnt mit der Kreuzigung Jesu, mit der Zerstörung seines Hauses, führt über Vergebung (mit dem wiederholten eindringlichen „Vater vergib“) und Umdenken zur Auferstehung, sprich zur Erneuerung. St. Michael’s Cathedral wurde nicht nur wieder aufgebaut neben den Ruinen der Vorgängerkirche und wie das Licht durch ihre neuen Fenster bricht, so strahlt das Licht der Versöhnung auch immer wieder herein in das Leben der Menschen, wenn das Versöhnungsgebet von Coventry erklingt, erläuterte Pfarrer Eberle.
Mit Flor Peeters Concert Piece, einem virtuosen Orgelwerk, das musikalisch auftrumpfend sämtliche Register zieht, entließ Kantor Aribert Nikolai seine Zuhörer, nun musikalisch wieder positiv gestimmt, in den warmen Sonntagmittag – nachdem sie beim Kirchausgang noch einmal in die Kiste mit den Coventry-Keksen greifen durften.