Im Oktober/November letzten Jahres hat Martin Blumöhr schon mal ein wenig angefangen in seinem „Kaninchenbau“, in der Fußgängerunterführung unter der Lassallestr. hin zum Lerchenauer See. Eine Blume, ein fetter Fisch und viele viele große Augen, die sich aus der Mitte der Unterführung heraus munter zu kräuseln scheinen. Entstanden ist eine kleine Seenlandschaft aus Augenwellen als künstlerische Duftmarke auf das, was in den nächsten Wochen und Monaten mit Ihrer Hilfe hier entstehen soll.
Früher gab’s Lüftlmaler wie den seligen Paul Huml, der an keiner frisch von ihm angestrichenen Hauswand vorbei konnte, ohne einen Heiligen oder sonst ein Motiv liebevoll auf die Hauswand zu pinseln. Dann kamen die Graffiti-Maler, die Wände im öffentlichen Raum mit nicht immer sehr einfallsreichen Schriftzügen oder Zeichen in verschiedenen Techniken ver(un)zierten. Zwischen diesen Traditionen steht der Mural-Künstler Martin Blumöhr (40). Und doch auch wieder nicht.
Denn schon als Jugendlicher faszinierten den gebürtigen Münchner die Wandbilder in der Stadt, die Hieroglyphen und der in den Darstellungen steckenden Kraft. Aber die wilden Straßenmalereien sind inzwischen nicht mehr seines. Er sucht nach eigenen, neuartigen Ausdrucksformen. Auch mit hermetischer Kunst, gefangen im elitären Akademismus, kann er wenig mehr anfangen – nachdem er an der Akademie der Bildenden Künste in München freie Malerei studierte. Kunst, wie Blumöhr sie als Wandmalerei versteht, soll im Dialog mit den Menschen entstehen, auf dass in seinem Kopf die Geschichten der Passanten und ihre Bilder miteinander verweben und sich verschlingen, verzahnen und in einander übergehen, um vielleicht neue, ungewohnte Sichtweisen zu öffnen und Perspektiven zu erweitern.
Sie sind gefragt mit Ihren Bildern und Geschichten
Der fette Fisch, der bereits durch Blumöhrs „Kaninchenbau“ schwimmt, ist der Geschichte eines begeisterten Anglers entsprungen, der immer noch davon träumt, einmal einen kapitalen Zander aus dem Lerchenauer See zu fischen. Die vielen Augen sind „Augenwellen“, die Bild gewordene Sehnsucht Blumöhrs nach dem Meer. Denn schon als kleinen Bub, als er endlich einmal mit den Eltern ans Meer reisen durfte, faszinierten ihn die mandelförmig sich kräuselnden Wellen, die ihn im Sonnenschein mit Tausenden von Augen anfunkelten. Und sie lassen ihn ganz offensichtlich nicht mehr los. Wasser ist schließlich die Lebensader der Menschen. Entlang von Flüssen und Seen entstanden Dörfer und Städte. Und die Siedlung am Lerchenauer See. Deshalb die Augen als lebendig gewordenes Wasser, als eine Art Sinnbild für das Leben selbst.
Passanten schwärmten dem Sendlinger (dort hat er sein Atelier) bzw. Pasinger (dort wohnt er mit seinem 12-jährigen Sohn Vincent) bereits von der Wasserfontäne vor, die einst den Lerchenauer See zierte. Sie erzählten ihm vom Kampf um das nahe Eggarten-Idyll, von den massiven Bauvorhaben im Münchner Norden, der allgegenwärtigen Nachverdichtung und der damit einhergehenden Gentrifizierung, der Verdrängung der angestammten Bevölkerung. Sie erzählten dem Künstler aber auch von Flakstellungen, die im Zweiten Weltkrieg hier standen, von KZ-Häftlingen, die in den Kiesentnahmestellen schuften mussten, von Wehrübungen der Bundeswehrtaucher im See, vom alten Veidt-Hof an der Ecke Lassalle-/Joseph-Seifried-Str., der der neuen Zeit weichen musste, von den vielen Hasen, die einst am Hasenbergl, aber eigentlich überall im 24. Stadtbezirk umherhoppelten … Doch das alles reicht noch nicht für das ca. 250 m² große, beidseitige Wandbild. Das Bild des 24. Stadtbezirks soll noch vielfältiger werden! Daher braucht der Künstler auch Ihre Erinnerungen, Ihr Wissen, Ihr Erleben, um ein farbenfrohes, detailreiches Bild von unserem Viertel zeichnen zu können!
Vom 13. bis zum 22. April treffen Sie den Künstler garantiert an
Vom 13. bis zum 22. April wird er jeden Tag, selbst am Wochenende, zumindest von 9 bis 16 Uhr in seinem „Kaninchenbau“ sein. Auch wenn er malt, sprechen Sie ihn an! Er freut sich auf Ihre persönlichen Erlebnisse und historischen Erinnerungen, sei’s in Verbindung mit Feldmoching, dem Hasenbergl, der Fasanerie … Und wenn Sie dazu noch Bildmaterial haben, bringen Sie es mit – sie lassen in Blumöhr gewiss gleich fantasievolle Gebilde entstehen! (Mund-Nasen-Schutz nicht vergessen.) Oder wenn Sie kontaktfrei Ihre Geschichte loswerden wollen: Gehen Sie auf https://kaninchenbau.martin-blumoehr.de/mitmachen/
Dort können Sie Ihren Hinweis reinschreiben, gerne auch nur in Stichworten. Und ein Foto lässt sich simpel hochladen. Je mehr wir ihm von unserem Viertel erzählen, desto bunter wird das Wandbild! Eventuell wird er die einzelnen Bildpuzzles noch mit einem QR-Code versehen, damit später Spaziergänger, die mehr zu einem Bildausschnitt erfahren möchten, auf dem Handy die Geschichte dahinter erfahren können.
Lassallestr.-Unterführung: Unort wird Kunstraum
Corona hat natürlich auch Blumöhr bereits einige Striche durch die Malerei gemacht. Eigentlich wollte er die Arbeit am See schon Anfang letzten Jahres aufnehmen und nun muss er in den nächsten Wochen und Monaten parallel dazu weitere große Wandbilder in der Stadt, bei denen er in der Verpflichtung steht, aber gleichzeitig wegen Corona in Verzug ist, fertigstellen. Etwa das Wandbild „Svapinga“ in der Unterführung bei der Tramhaltestelle Domagkstr. in der Parkstadt Schwabing und ab Juni dann auch das Kunstprojekt „Permanus“ an der Gebäudewand der Lebenshilfe München an der Chiemgauerstr.
Nichtsdestotrotz wird im Laufe des Jahres sein „Kaninchenbau“ mit dem zentralen Element „See“ an Gestalt gewinnen. Erstellt wird die Wandarbeit in einer Mischtechnik aus Acrylmalerei und Tuschezeichnung. Je mehr die Darstellung in die erzählten Details geht, desto genauer wird sein Pinselstrich werden, und je mehr sie in die Vergangenheit verweist, desto stärker wird sie in Grautönen gehalten.
Wie bei Alices Fall durch Zeit und Raum ins Wunderland, so wird der Passant der Unterführung künftig den Geist des Stadtbezirks in Form von Impressionen und Gedanken zur Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft nachspüren können. Dabei werden sich historische Ereignisse mit privaten Schilderungen von Erlebnissen, Blickwinkeln und Wünschen zu einer Art Mikro-Makro-Kosmos des Viertels verweben.
Zum Schluss erhält das Wandbild eine Nano-Versiegelung, um es vor Dreck und wilden Verschmierungen zu schützen. rer
P.S. I.: Wer wissen möchte, was Blumöhr bislang sonst noch so geschaffen hat, der hat die Gelegenheit, ihn bei einer Einzelausstellung im Künstlerhaus vom 3. Juni bis 31. Juli näher kennenzulernen. Motto: Ceterum censeo (= im Übrigen denke ich). Dort werden auch seine bisherigen Wandarbeiten dokumentiert sein.
P.S. II.: Ein wenig ausgebremst wird Blumöhrs Schaffensdrang derzeit noch durch den immer noch fehlenden Stromanschluss, den er für seinen Kompressor zur Arbeit mit Airbrush dringend benötigt. Ables Biergarten hatte doch definitiv einen Stromanschluss. Das Problem muss sich doch eigentlich schnell aus der Welt schaffen lassen, möchte man meinen.