Weil Nina Bindl, die Kulturreferentin des Augustinums München-Nord, in Elternzeit ist, hat die Seniorenresidenz, wenngleich es in Corona-Hochzeiten keine kulturellen Angebote gab – und für Externe weiterhin nicht gibt –, eine Vertretung gesucht und mit Polina Zinoviev gefunden. Die Russin hat ihre neue Aufgabe am 1. April angetreten, sprüht vor Ideen und ist zugleich froh, dass sie, Corona-bedingt, erst allmählich den Kulturbetrieb wieder mit kleinen Formaten aufnehmen darf.
Das Augustinum München-Nord und Polina Zinoviev haben eines gemeinsam: Beider Wurzeln reichen ins Jahr 1971 zurück. Mit dem Bau des Augustinums wurde im Oktober 1971 begonnen und Zinoviev erblickte im November des gleichen Jahres das Licht der Welt. Auch kennt die neue Kulturreferentin das Augustinum und seine Philosophie schon länger, denn ihre Tochter Lydia, die als kleines Kind einen großen Teil ihres Gehörs einbüßte, geht auf die Samuel-Heinicke-Realschule. Diese private, staatlich anerkannte Schule wurde 1971 von Pfarrer Georg Rückert, dem Gründer des Augustinums, ins Leben gerufen und ist noch heute in der Trägerschaft der Schulcentrum Augustinum GmbH München.
Ein facettenreiches Schaffen in vielen Disziplinen
Es lag also nahe, sich auf die Stellenausschreibung zu bewerben, zumal Zinoviev gerade ihren Job bei „Isarflimmern“ verloren hatte – nach einer saftigen Mieterhöhung hatte die beliebte Buchhandlung im Glockenbachviertel Ende 2020 schließen müssen.
Damit hat das Augustinum München-Nord nun für die nächsten zwei Jahre eine vielfältig präsente Kulturreferentin, die vier Sprachen fließend spricht: neben ihren beiden Muttersprachen Deutsch und Russisch sind das Englisch und Französisch; vom Italienischen besitzt sie zumindest Grundkenntnisse. Vor allem aber hat Zinoviev selbst schon viele Disziplinen des Kulturbereichs durchmessen: Sie hat als Bühnenbildnerin an verschiedenen Musik- und Sprechtheatern im süddeutschen Raum gearbeitet, hat diverse Gastspiele, Festivals und Workshops organisiert, am Staatstheater in Odessa ein Ballett in Zusammenarbeit mit dem Bolschoi-Theater inszeniert, Libretti sowie ein Drehbuch geschrieben. Sie hat als Illustratorin, Übersetzerin von literarischen und technischen Werken und Autorin von Kinderbüchern gearbeitet und malt seit drei Jahrzehnten mit unverkennbar karikatureskem Pinselstrich. Das Buch „Opus est: Bilder und Zeichnungen aus 3 Jahrzehnten“ gibt einen kleinen Einblick in ihr facettenreiches Schaffen. Ihre Bilder hat sie in Moskau, Paris und Mailand und Baden-Baden ausgestellt.
Kreatives, kosmopolitisches Familienerbe
Das Kreative und das Kosmopolitische wurden ihr zum einen in die Moskauer Wiege gelegt, zum anderen „aufgebürdet“ durch das Schicksal ihrer Familie. Denn ihr Papa, Alexander Alexandrowitsch Zinoviev, war Dissident, Soziologe, Logiker, Schriftsteller, Professor für Philosophie und Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewesen. Er wurde 1978, in den düstersten Jahren des Breschnewismus, nach der Veröffentlichung seines Romans „Gähnende Höhen“, in dem er schonungslos mit dem gesellschaftlichen und politischen System der Sowjetunion abrechnete, ausgebürgert. So verschlug es die Familie nach München und Klein-Polina genoß das bunte westliche Leben und das bayerische Schulsystem. Nach dem Abitur studierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität Romanistik, Anglistik und natürlich Philosophie, schließlich ist auch Mutter Olga, die sich heute um den literarischen Nachlass ihres 2006 verstorbenen Mannes kümmert, Philosophin. Während 1999 Vater und Mutter mit der jüngeren Schwester Xenia nach Russland zurückkehrten – Xenia ist gleichfalls ein Multitalent: Pianistin, Komponistin & Klavierpädagogin, die Geologie mit Schwerpunkt Vulkanologie sowie einige Semester Luft- und Raumfahrttechnik studierte, so dass sie hofft, bei einer künftigen Weltraummission mitfliegen zu dürfen –, blieb Polina im Westen, schließlich fühlte sie sich den hiesigen Theatern verbunden, dem Gärtnerplatztheater wie dem Prinzregententheater in München, den Staatlichen Bühnen Augsburg sowie kleineren anderen Häusern.
Darauf dürfen sich die Bewohner des Seniorenstifts freuen
Bei dieser schillernden Herkunft und dem vielschichtigen künstlerischen Hintergrund dürfen sich die Bewohner der Seniorenresidenz, inzwischen zu mehr als 95 % geimpft bzw. immunisiert, in den nächsten Monaten auf ein spannendes, neu interpretiertes Kulturprogramm freuen, das heuer unter dem Motto „Lebensdinge“ steht. Vorausgesetzt natürlich, die Auflagen des Referats für Gesundheit und Umwelt lassen es zu; ein strenges Hygienekonzept versteht sich sowieso von selbst.
Gestartet wird mit geistlichen Matineen bzw. Après-midis, Andachten, bei denen die Teilnehmer, Bewohner wie Mitarbeiter, eigene Texte, für gut befundene Aphorismen etc. vortragen dürfen und sich dazu austauschen können. Auch das Kursprogramm wird sukzessive wieder aufgenommen. Los geht’s mit den Fitnessprogrammen im Freien, mit (Reha-)Gymnastik und Qigong. Eine Sturzprophylaxe und eventuell Jonglieren sollen folgen. Dann werden die Sprachkurse und das Gedächtnistraining fortgeführt. Und es stehen zwei Ausstellungen an: die eine mit Assemblagen und Collagen, gefertigt von Veronica Rummel-Damian, die andere mit Werken von Erich Breitmoser, der erst im Augustinum zufällig zur Malerei kam und dieses Mal nicht nur seiner lebenslangen Blumenliebe huldigt. Jazzmusiker Stefan Noelle ist wieder für fünf Konzerte im Brunnenhof gebucht, zu denen der Münchner Songschreiber, Drummer und Percussionist weitere Musiker einladen wird.
Geplant sind ferner russische Teekränzchen mit Samowar und Domraspielerin (eine Domra ähnelt ihren europäischen Schwestern, der Laute und der Mandoline), eine musikalische Happy Hour mit Cocktails aus der Haus-eigenen Küche … Später, im Sommer, wird es im Theatersaal eine Multimedia-Show über eine Reise nach Bali und Java geben. Und die Bewohner dürfen bald auch selbst wieder kleine Ausflüge unternehmen, etwa an den Starnberger oder den Staffelsee, verbunden mit einer kulinarischen Einkehr. Zinoviev denkt ferner an eine Stadtsafari oder eine Stadtführung der anderen Art mit dem Autor von Krimis und Sachbüchern zur Geschichte verschiedener Münchner Stadtviertel, Martin Arz. Folgen könnten finnische, russische oder gar argentinische Wochen, voller Musik, Literatur, landestypischem Essen, Bildern …
Fazit: Das Augustinum und die neue Kulturreferentin wachsen langsam zusammen und irgendwann werden hoffentlich auch wieder Externe am vielfältigen kulturellen Programm teilhaben dürfen!
Foto: Polina Zinoviev