Mit 19 hat man noch Träume. Vor allem wenn man hinter dem Eisernen Vorhang sitzt, kaum reisen darf – und mangels Geld auch nicht kann – und wegen der sozialistischen Planwirtschaft sogar hungern muss, weil die Versorgungslage kritisch ist. Mit seinem Geografiestudium wollte Pfarrer Kurzydem daher zumindest gedanklich die Welt vermessen. Doch irgendwann, als er in Krakaus Marienkirche vor dem Bild der Muttergottes kniete, kam ihm der Gedanke: Wie wäre es, die Welt anders kennenzulernen? Als Missionar? Dieser Richtungswechsel blieb nicht der einzige auf seinem Lebensweg, der ihn letztlich zwar – leider (für ihn) – nicht nach Madagaskar führte, Kurzydems paradiesisches Missionsziel, dafür aber – Gott sei’s gedankt (für uns) – in den Münchner Norden. Am Sonntag, den 1. Mai feiert Pfarrer Kurzydem zusammen mit den Gläubigen seines Pfarrverbands Pacem das 40-jährige Priesterjubiläum.
Polen gehörte zwar nach dem 2. Weltkrieg zur Einflusssphäre der Sowjetunion, war Teil des Warschauer Pakts und offiziell ein kommunistisch regiertes Land. Aber: Die allermeisten Polen ließen sich, trotz Marxismus, Opium-für-das-Volk-Ideologien, Atheismus & Co., ihren tradierten Glauben nicht nehmen. Der Glaube war allerorten sehr lebendig, man ging in die Kirche, ließ die Kinder taufen, wenn auch heimlich … Die theologische Fakultät war zwar nach dem 2. Weltkrieg aus den ehrwürdigen Hallen der Universität vertrieben worden, aber es gab z. B. in Krakau unter dem Dach der päpstlichen Akademie doch mehrere Diözesanseminare, selbst kleine Ordensgemeinschaften hatten ihre Priesterseminare. Nachwuchssorgen kannte die kath. Kirche Polens damals nicht. Viele sahen in der römisch-katholischen Kirche auch eine Gegenmacht zur kommunistischen Staatsführung und fühlten sich 1978 durch die Wahl von Kardinal Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. darin bestärkt.
Statt Geografie und Lehramt Priesterseminar und Theologie
So war der kleine Johannes Kurzydem brav Ministrant geworden in seiner Heimatpfarrei Heiligkreuz im einst schlesischen Loslau (heute Wodzisław Śląski), ca. 50 km südwestlich von Kattowitz bzw. südöstlich von Ratibor in Richtung tschechischer Grenze gelegen. Die Eltern waren schließlich gläubig. Aber als er ihnen eröffnete, dass er das Geografiestudium an der Uni in Krakau an den Nagel hängen und in eine Ordensgemeinschaft eintreten und Theologie studieren wolle, da war die Begeisterung verhalten. „Was für Ideen hast du denn. Überleg dir das gut oder lass es lieber.“
Der 19-Jährige ließ es nicht, sondern trat 1976 ins Priesterseminar der vom hl. Vinzenz von Paul gegründeten Ordensgemeinschaft der Vinzentiner ein – wie es der Zufall (oder die Vorsehung) so wollte, war es just neben dem Institut für Geografie – und studierte katholische Theologie. Er erlebte, wie er in der Rückschau sagt, wunderschöne Jahre beim Studium, in der Gemeinschaft des Ordens und im Priesterseminar, auch wenn es schwierig war, an gute theologische Literatur zu kommen. In polnischer Sprache gab es kaum etwas, Professoren, die aus Schlesien stammten und deren Muttersprache Deutsch war, griffen daher gerne auf deutsche Bücher zurück und übersetzten die maßgeblichen Werke für ihre Lehre. Vieles wurde damals simpel vervielfältigt per Handkurbel, erinnert sich Kurzydem an die Zeit vor über 40 Jahren.
Statt Missionar in fremden Ländern …
Die Priesterweihe empfing Kurzydem am 25. April 1982 in Krakau, zusammen mit elf seiner Ordensbrüder und mit Priestern aus anderen Orden, insgesamt an die 30. Der Rahmen der Feier war klein, weil damals zum einen in Polen das Kriegsrecht (1981–1983) und damit verbunden Ausnahmezustand herrschten, verhängt von Wojciech Jaruzelski, dem Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen. Zum anderen waren Priesterweihen in Polen zur damaligen Zeit nichts Besonderes, alleine in Krakau wurden jährlich 300 bis 400 Priester geweiht. Zum Vergleich: Laut Deutscher Bischofskonferenz gab es 1982 deutschlandweit (!) gerade noch 216 Priesterweihen, ohne Ordenspriester (2021: 48).
Am 2. Mai 1982 feierte Johannes Kurzydem dann in seiner Heimatpfarrei Heiligkreuz in Loslau Primiz. Das Dorf war auf Anweisung des Bürgermeisters schön herausgeputzt worden, offiziell für den 1. Mai, den im Kommunismus hochheiligen „Tag der Arbeit“. Doch die Mühe galt dem eigentlichen Fest dieses Wochenendes: der Primiz, der allerersten überhaupt in seiner Heimatpfarrei, weshalb die Leute massenweise herbeiströmten, wie sich Kurzydem gerne erinnert. Es wurde ein schönes Fest. Sein Primiz-Spruch lautete „Gehe in die Welt und verkünde die frohe Botschaft“ – obwohl er da schon wusste, dass aus seinem Lebenstraum, als Missionar in ferne Länder zu reisen, wegen seiner Augenprobleme nichts werden würde. Diese Enttäuschung zu verwinden, die Gegebenheiten akzeptieren zu lernen, die wahre Berufung zu entdecken – das schaffte er nicht zuletzt mit Hilfe seiner Professoren, insbesondere aus dem Orden. Die Gespräche, auf Spaziergängen durch den großen Garten des Zentralhauses, haben ihn sehr geprägt, wie er auch heute mit einem Priesterkandidaten aus dem Pfarrverband Pacem sehr intensive Gespräche führt, nicht über theologisch-wissenschaftliche Fragestellungen, das könnten dessen Professoren besser. Er könne ihm nur seine Erfahrung geben und das, was er sei. Ihre Gespräche drehten sich um das Wesentliche, den Glauben, die Spiritualität. Und er höre viel zu.
… Prokurator und Ökonom in der Heimat
Statt nach Madagaskar ging es zunächst für drei Jahre als Kaplan nach Breslau, dann wieder zurück nach Krakau ins Zentralhaus, wo Kurzydem mit seinen 27 Jahren Prokurator wurde. Statt ums Seelenheil musste er sich als Ökonom ums Personal und die Finanzen und darum kümmern, dass seine Mitbrüder etwas zum Essen auf den Tellern hatten. Eine schwierige Aufgabe in einer krassen Zeit mit Ausnahmezustand und ausgeprägter Mangelwirtschaft. Jeder erhielt vom Staat ja nur ein paar Essensmarken zugeteilt für ein paar Gramm Zucker, Brot und etwas Fleisch. Einfach etwas so kaufen, das war damals illegal. Klappte aber manchmal auf dem Land. So habe man „sehr viel Sauerkraut und Kartoffeln gegessen“, erinnert sich Kurzydem an diese karge Zeit.
Da er Verwandte am Niederrhein in Deutschland hatte und um 1986 auch seine Eltern und der Bruder nach Deutschland übersiedelten – die Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits hatten deutsche Wurzeln, daher waren Vater und Mutter in Schlesien auch auf der deutschen Schule gewesen und sprachen Deutsch – fuhr er immer wieder nach Deutschland und schmuggelte von dort Sachen zurück, z. B. Medizin, die sich dann eintauschen ließ. Illegal, natürlich. Aber die jungen Männer im Priesterseminar hatten doch Hunger. Irgendwann flog Kurzydem auf und landete im Gefängnis, dann, während des einjährigen Prozesses, im klösterlichen Hausarrest. Er wurde zwar freigesprochen, aber die Polizei ließ ihn nicht mehr in Ruhe, provozierte einen Unfall, schikanierte ihn … bis der Provinzial meinte: „Dir bleibt nichts anderes übrig, als Polen zu verlassen.“ Wieder so ein Lebensbruch. Nie hatte Kurzydem Polen verlassen wollen, nie seine Ordensgemeinschaft, in der er sich vom ersten Tag an „wahnsinnig wohl gefühlt hatte“. Es half nichts. 1989 verließ auch er Polen Richtung Deutschland. Der Kontakt hat aber bis heute gehalten und das trage ihn sehr.
Statt Polen plötzlich Deutschland
Als Spätvertriebener wurde ihm zwar schnell seine Deutschstämmigkeit anerkannt, aber er sprach kaum Deutsch und musste erst ein halbes Jahr lang die Sprache seiner Vorfahren pauken. Leider hatte seine Ordensgemeinschaft in Deutschland keine Häuser, so dass er ziemlich alleine auf sich gestellt war. Später hat ihn Kardinal Wetter inkarniert, sprich als Priester in die Erzdiözese München-Freising aufgenommen, wo er nun seit 33 Jahren in Diensten steht.
Seine erste pastorale Anstellung fand Johannes Kurzydem in der Kirchengemeinde St. Johannes Evangelist am Lerchenauer See, danach ging’s in die nächste Münchner Pfarrei, nach St. Mauritius. Da deren Pfarrer sich einer schweren Herz-OP unterziehen musste, verwaltete er ein Jahr lang die Gemeinde. Es folgten zwei Jahre als Kaplan in der Stadtpfarrei St. Johann in Erding, dann der Sprung ins kalte bayerische Idiom: Kurzydem wurde zum Pfarrer im Chiemgau, genauer gesagt in Traunstein-Haslach berufen. Massenweise Kinder damals, viele Jugendliche, sehr engagierte Gemeinde – man spürte, den Menschen war der Glaube noch wichtig. Als Pfarrer sei es dort damals einfach zu arbeiten gewesen, es habe stets genügend Helfer für alles gegeben. Aber mit der zunehmenden Bürokratie habe sich im Laufe der Jahrzehnte die Arbeit des Pfarrers stark verändert. Die EU, der Staat … alles sei heute geregelt, woran man früher überhaupt nicht dachte, dass es das gäbe. „Aber man wächst ja rein. Lernt immer wieder etwas dazu. Das, was ich nie lernen wollte. Managementdinge. Verwaltungsangelegenheiten.“
Wurzeln geschlagen im Münchner Norden
2000 kehrte er zurück an seine erste pastorale Wirkstätte, St. Johannes Evangelist. Dort übernahm er nach der Pensionierung von Pfarrer Hamberger im Oktober 2000 das Amt des Gemeindepfarrers – ein Amt, das ihm nur gut zwei Jahre vergönnt war. Dann musste er zum 1. Januar 2003 den ersten Pfarrverband Münchens gründen mit den Pfarrgemeinden St. Christoph in der Fasanerie und St. Johannes Evangelist am Lerchenauer See und Johannes Kurzydem wurde leitender Pfarrer. 2010 kam Feldmoching, 2016 noch der Pfarrverband St. Matthäus/St. Agnes dazu. Jedes Mal eine neue Herausforderung, immer mehr Personal, immer mehr Administration. Immer mehr Verantwortung. Dass er 2013 zudem noch zum Dekan des Dekanats München-Feldmoching mit insgesamt 13 Pfarreien, organisiert in fünf Pfarrverbänden, gewählt wurde, wollen wir nicht unerwähnt lassen.
In den 22 Jahren seines Priester-Daseins hier im Münchner Norden hat sich Kurzydem vielen Aufgaben gestellt und seine Berufung gelebt, auch wenn sie anders aussah, als er sie sich als 19-Jähriger ausgemalt hat! Trotz alledem konnte er seine Spiritualität leben oder habe es zumindest versucht zu leben, wie er lächelnd meint.
Auch würde er heute wieder den Weg gehen, gewiss, aber dann mit einer anderen Einstellung. Wer sich für das Priesterseminar entscheide, der möchte in die Seelsorge gehe, aber die heutige Form des Priesters sei leider anders. Das sei für junge Leute unattraktiv.
So wird er mit seinen knapp 65 Jahren, wenn alle anderen in „normalen“ Berufen längst ans Aufhören denken bzw. schon in Rente sind, auch noch weitermachen (und ob des Priestermangels auch weitermachen müssen), solange es die Gesundheit zulässt. Wir wünschen ihm daher zu seinem 40-jährigen Priesterjubiläum vor allem: Gottes Segen, Gesundheit und viel Kraft.