Auf viel Interesse, nicht nur seitens der Bewohner der Seniorenresidenz Augustinum, sondern auch seitens der Anwohner im 24. Stadtbezirk, stieß am Montag, den 22. Januar der Dokumentarfilm „Ruinenschleicher & Schachterleis“, gezeigt im Theatersaal des Augustinums. Der Untertitel sagte gleich, um was es in dem Film geht: Er zeigt in Schwarzweiß-Fotos und Original-Filmsequenzen, wie sich die Münchner nach der „Stunde 0“, dem 8. Mai 1945, teils im wahrsten Sinne des Wortes aus den Ruinen und Trümmern erhoben, aus ihren Kellern durch meterhohe Schuttberge ins Freie krochen und den Amis mit weißen Tüchern am Straßenrand oder von den Fenstern aus zuwinkten, später beim Ramadama den Schutt beiseite schafften und peu à peu wieder ein kleines Stück normales Leben zu führen versuchten.
Dazu berichten 28 Zeitzeugen – damals alle Kinder und Jugendliche – vom Alltag in dieser Zeit, der zwar geprägt war von Hunger, bitterer Armut und drangvoller Enge in den wenigen unzerstörten Wohnungen – mehrköpfige Familien lebten, kochten, badeten (in Zinkwannen) und schliefen in ein oder zwei Zimmern. Sie berichten aber auch von der großen Freiheit draußen, wo sie zwischen den Trümmern der Stadt mit Freunden tun und lassen konnten, was sie wollten. Die Mütter waren schließlich beschäftigt, auf dem Schwarzmarkt das Nötigste zum Essen für die Familie zu organisieren, die Väter waren vielfach noch in Kriegsgefangenschaft.
Was ist eine Schiebewurst? Und ein Schachterleis?
Kennen Sie beispielsweise die „Schiebewurst“? Das ist, wie eine Zeitzeugin mit strahlenden Augen berichtete, ein Wurstradl, das man auf dem Brot bei jedem Bissen immer weiter nach hinten schob, um den wunderbaren Geruch nach Wurst möglichst lange in der Nase zu haben! Oder wissen Sie, was der Ruinenschleicher ist, der namengebend war für den Film zusammen mit dem Schachterleis, der ersten deutschen Kunsteisbahn, wo seit dem Jahr 1892 dank des Stangeneisfabrikanten Felix Unsöld Eisläufer ihre Kreise ziehen konnten? Das war die Tram 37, die seinerzeit zwischen Trümmern und Kriegsruinen hindurch vom Nordbad bis zum Ostbahnhof quer durch die schwer zerstörte Stadt ruckelte.
1947: Erstes Herbstfest (später Wiesn) noch mit Lebensmittelmarken
Auch wenn in der anschließenden Diskussion mit den drei Filmemachern, von denen gleich noch die Rede sein wird, der ein oder andere Zuschauer bemängelte, dass in der Dokumentation nicht die sehr eindrucksvollen und bis heute erinnerlichen Bilder der vielen Kriegsversehrten ohne Beine, Arme, Augen …, die sich damals am Odeonsplatz oder in der noch nicht zur Fußgängerzone umgewandelten Neuhauser Str. aufhielten bzw. dahinschleppten, aufgegriffen wurden – das Schweigen der Eltern über die Geschehnisse während der Hitlerzeit, wie alles so kommen konnte, die Entbehrungen, die Prügelstrafen, die wenig liebevolle Hinwendung zu den Kindern, für die es viele Regeln, aber nur wenig körperliche Nähe gab, all das ergibt ein sehr eindrucksvolles stimmiges Porträt der Nachkriegszeit, in der eine Brezn 5 und eine Semmel 3 1/2 Pfennige kostete und in der man für 80 Pfennig einen wunderbaren Tag auf der Wiesn verleben konnte, wie ein Zeitzeuge berichtete: 15 Pfennig kostete die Trambahn hin, für 50 Pfennig konnte man den ganzen Tag im Teufelsrad bleiben, für 15 Pfennig geht’s wieder zurück.
Geschichte durch Geschichten
Der gut einstündige Film verzichtet dabei auf nackte Fakten, sondern erzählt Geschichte lieber durch die kleinen Geschichten der Zeitzeugen und kommt damit ungemein authentisch rüber, so dass sich eine jüngere Zuschauerin bei den anwesenden drei Filmemachern bedankte, dass sie damit vieles am Verhalten und der Einstellung ihrer Mutter besser verstehen könne.
Initiatoren und Macher des Films, der zwischen 2020 und 2023 entstand, sind Michael von Ferrari, Angelika Wimbauer und Lutz Eigel, alles drei Rentner, die sich beim Kulturführerschein kennenlernten, einem Angebot des Evangelischen Bildungswerks an aktive Rentner, die selbst Kunst gestalten wollen. Michael von Ferrari war ehemals Umweltreferent der Gemeinde Haar, Wimbauer Realschullehrerin und Lutz Eigel ist promovierter Biologe, der für die Pharmaindustrie arbeitete. Michael von Ferrari hatte 2019 mit einer anderen Partnerin bereits einen ähnlich gestrickten Film gemacht, „Neun“, in dem neun Zeitzeugen über die Endphase des 2. Weltkriegs und den Neuanfang berichten.
Prominenter Sprecher: Udo Wachtveitl
Drei Jahre, viel Idealismus und ehrenamtliche Tätigkeit stecken in dem neuen Film, den 21 der 25 Bezirksausschüsse bezuschussten sowie der Bezirk von Oberbayern und über 150 Privatpersonen. Dabei musste die drei Filmemacher auch viel lernen, etwa dass es mit Recherche, Fragen- und Themenkatalog für die Interviews der Zeitzeugen nicht getan ist. Mindestens genauso aufwendig und wichtig ist die Postproduktion: Schließlich soll ein Film mit Musik unterlegt werden und es braucht Bilder und Filmsequenzen etc., hinter denen Rechte stecken. Ein Film muss geschnitten und dramaturgisch zusammengebaut werden – hier kam Ursula Ambach ins Spiel, die an dieser Art Film inzwischen, so war zu erfahren, „Blut geleckt hat“. Es braucht Tonmischer, Sounddesigner und viele andere Filmfachleute … Und einen guten Sprecher wie Udo Wachtveitl alias Tatort-Kommissar Franz Leitmayr. Der das übrigens ehrenamtlich machte!
Ein Film auch für die jüngere Generation
Wir wünschen dem Film, dass ihn nicht nur die älteren Münchner sehen und sich dabei an ihre Kindheit erinnern, sondern er auch, gut eingebettet im Unterricht, in Schulen gezeigt wird. Die zögen derzeit noch nicht so recht, berichteten die alten „Jungfilmemacher“, die sich ansonsten über regen Zuspruch und Erfolg allerorten nicht beklagen können. Michael von Ferrari hat übrigens schon das nächste Projekt im Kopf: die 1960er-Jahre!