Schon eine Woche vor Wiesn-Beginn hieß es am Freitag, den 12. September am Hasenbergl: „O’zapft is“. Zur Vernissage strömten Hunderte von Besuchern. Sie kamen wohl nicht nur wegen der Ausstellung, die einen traditionsreichen Teil der Wiesn-Geschichte beleuchtet und anlässlich der die „Dirndl-Dichte“ schon fast so hoch war wie beim Damen-Wiesn-Treff von Regine Sixt. Vermutlich kamen sie auch wegen des Festredners, Alt-OB Christian Ude. Der brachte denn auch mit seinen Wiesn-Erlebnissen das Flair des weltweit größten Volksfestes in den Theatersaal des Augustinum, auf dass selbst hartgesottene Wiesn-Hasser – die es ja geben soll – Lust bekamen, mal wieder „die suspekteste und verabscheuungswürdigste Großveranstaltung“ (O-Ton Ude) zu besuchen. Doch der Reihe nach.
40 Jahre Augustinum: Da lässt man es richtig krachen
Stiftsdirektorin Elke Schmidt, natürlich auch sie im Dirndl, konnte nicht nur etliche Ehrengäste wie Alt-OB Jochen Vogel nebst Gemahlin begrüßen, sondern auch drei Familienmitglieder der weitverzweigten Schichtl-Familie sowie Martina Wagner, die Leiterin des Lübecker Theater Figuren Museums, die etliche Exponate für die Ausstellung zur Verfügung stellte, und natürlich die hölzernen Gäste: 15 Figuren, ein Pilz und ein Hund. Sie sind Teil des umfangreichen Nachlasses von Xaver Schichtl, dem letzten großen Marionettenkünstler aus der Schichtl-Dynastie.
Eine launige Rede hielt auch der Vorsitzende des Augustinum – das Unternehmen feiert heuer übrigens 60. Geburtstag. Prof. Markus Rückert erklärte, dass nun eigentlich die legendäre „Kopfmaschine“ der Schichtls demonstrieren werden sollte, mit ihm als Delinquent. Doch leider sei seit 1854 in München keine öffentliche Hinrichtung mehr erlaubt, weil damals eine nicht geklappt habe, worauf das Publikum, ums schöne Grausen gebracht, wütend den Scharfrichter attackierte. Gut, dass die Schichtls dem Volk etliche Jahre später auf der Wiesn das wohlige Grausen mit der Guillotine-Nummer zurückbrachten. Sprach’s, gab seiner Freude, lebend davon gekommen zu sein, noch einmal Ausdruck und überließ unter großem Applaus Festrechner Christian Ude die Bühne.
Lange unvorstellbar: eine rustikale Frohnatur zu spielen
Der Alt-OB war wie immer witzig bis selbstironisch und sprach zunächst von den drei Phasen seiner Wiesn-Beziehung. Phase 1: Der norddeutsch geprägte Vater aus Düsseldorf, dem die Vorstellung schier unerträglich war, sich auf der Wiesn mit Bier zu betrinken und Geld für Bauernfängerei auszugeben, hatte den Kindern das Oktoberfest verboten. Aber der Großvater machte mit dem kleinen Christian einen weiten Spaziergang, nicht durch den Englischen Garten, wie angekündigt, sondern über die verbotene Wiesn-Stadt … Phase 2: Als Angehöriger des Bildungsbürgertums lehnte Student Ude das Nationalbesäufnis und die Lustigkeit, von Trachtenkapellen diktiert, kategorisch ab und hätte diese arrogante Haltung wohl beibehalten, wäre er nicht OB geworden, was Phase 3 einläutete.
Die Angst des OB vorm Wiesn-Anstich
Am Sonntag vor Wiesn-Beginn wurde Ude zum OB gewählt. Da sei er noch ganz cool gewesen, so Ude. Den Wechsel (= Zapfhahn) reinzuhauen, sei schließlich keine Affäre. Doch die Anspannung stieg, befeuert nicht zuletzt dadurch, dass ihm alle nicht etwa zur Amtsführung Glück, viel Kraft und ein glückliches Händchen wünschten, sondern zum ersten Anstich. Am Mittwochabend steigerte sich seine Angst zur Panik: Während einer Ausstellung, als er gerade zum Wasserglas griff, habe Kronawitter ihn angezischt: „Du bist ja ein Linker“. Die Botschaft, dass Ude Linkshänder sei, hielt auch die Fremdenverkehrschefin für eine Katastrophe. Müsse nun doch auf die Schnelle die ganze Anzapfbox umgedreht werden, sonst hätten 800 Mio. Chinesen im Fernseher nur den Hintern des OB im Bild, so eine aufgeregte Fremdenverkehrschefin.
Tags darauf – im Chefkalender stand lediglich „16 Uhr Termin außer Haus“, doch jeder in der Stadtverwaltung und bei der Presse wusste: Der OB übt. Nach 25 „Probebohrungen“ und 30 verbrauchten Spundhölzern hatte er sich einen anständigen Muskelkater antrainiert und beherrschte die Sache. Dennoch suchte ihn Freitagnacht ein Alptraum heim von im Bier ertränkten Menschen und aufgedunsenen Brezn, den 800 Mio. Chinesen … All das im Kopf entglitt ihm tags darauf tatsächlich der zweite Schlag, auf dass er es in Panik immer wieder krachen ließ, bis nach dem sechsten Schlag „Aufhören, Aufhören“-Rufe ertönten … Die Gäste im Augustinum bogen sich ob dieses Berichts vor Lachen.
Das waren die Schichtls
So in Stimmung gebracht, gab’s anschließend eine bayerische Brotzeit samt Bier vom Fass und die zahlreichen Besucher konnten die von Paula Väth kuratierte Ausstellung besichtigen. Hier werden erstmals überhaupt zwei Zweige der Schichtl-Familie zusammen dargestellt: die Familie von Michael August Schichtl (1851 – 1911), „Papa“ genannt, dem legendären Erfinder der „Kopfmaschine“, und Franz August Schichtl, den es mit seinen Marionetten in den Norden zog und dessen Sohn Xaver (1888 – 1965) das „Marionetten & Varieté-Theater“ seines Vaters fortführte.
Die Schichtls waren eine Schaustellerfamilie, die in Deutschland und Europa eng mit dem Marionettenspiel verknüpft war und die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Jahrhundertelang besuchten Mitglieder dieser weitverzweigten Artistenfamilie die Jahrmärkte, Volksfeste und später auch die internationalen Varietébühnen, sogar in den USA und Russland.
Michael August Schichtl gründete 1869 mit seinen drei Geschwistern das Münchner Schichtl-Theater, das er ab 1879, als die Brüder sich trennten, alleine als „Münchner Zaubertheater“ weiterführte. Sein Theater war für das Oktoberfest äußerst bedeutend, sein Ruf legendär.
Nach „Papas“ Tod verkaufte die Witwe Eleonore das Theater nach dem Oktoberfest 1911 an den Ziehsohn Johann Eichelsdörfer, der das Schichtl bis zu seinem Tod 1955 führte. Dessen Witwe Franziska wiederum führte als Schichtlin das Geschäft bis 1985 weiter – unterbrochen nur kurz in den 1950er-Jahren, als ein Brand das ganze Illusionstheater zerstörte. Doch schon 1958, zur 800-Jahr-Feier Münchens, erinnerte sich die Stadtspitze an den nostalgischen Charme des Altmünchner Theaters und gab der Schichtlin sogar Geld, um das Theater wiederaufleben zu lassen. Nach 1985 führten Manfred Schauer und der Gastronom Wolfgang Leyrer das Schichtl weiter – sie hatten gegen Michael Käfer den Zuschlag erhalten. Seit 2000 leitet Schauer allein die Geschicke des Theaters.
P.S.: Am Donnerstag, den 9. Oktober gibt’s ab 19 Uhr einen sehr interessanten 30-minütigen Dokumentarfilm zur Geschichte der Familie Schichtl im Theatersaal des Augustinum zu sehen. Regisseur ist Klaus Bichlmeier. Dies ist die Uraufführung. Anschließend ist eine Diskussion mit dem Regisseur, mit Vertretern der Familie Schichtl sowie mit dem aktuellen Schichtl-Besitzer Schauer geplant.
Fotos: Alexander Brandl & Renate Regnet-Seebode