In die Wiege gelegt war dem kleinen Thaddäus Robl diese Karriere nicht. Das am 22. Oktober 1877 in Kleinaschau bei Garmisch geborene Kind war schmächtig und kränklich. Mit drei Jahren erkrankte es an Gehirntypus. Keine Seltenheit damals. Thäddäus überwand die Krankheit, konnte sich aber bis ins neunte Lebensjahr hinein kaum selbst fortbewegen. Mutter Therese brachte den fast Gelähmten mit dem Leiterwagen und im Winter per Schlitten zur Schule. Als es ihm etwas besser ging, übte er mit eisernem Willen heimlich auf dem Hochrad seines Vaters das Rad fahren. 1891, als er die Schule verließ, bekam er auf Anraten eines Arztes ein eigenes Fahrrad. 1894 trat er dem Münchner „Radlerclub Isarau 1894“ bei und begann, zunächst gegen den Willen seiner Eltern, erste Straßenrennen zu bestreiten.
München war einst das Zentrum des Rads
Nicht erst seit dem Freizeit- und Alltagsradler Christian Ude gilt München als Radler-freundliche Stadt. Sie war das schon vor über 120 Jahren, auch wenn damals jeder Radfahrer eine Fahrprüfung ablegen und jedes Velocipede ein Nummernschild tragen musste. München war anno dazumal das Zentrum des deutschen Radfahrsports. Seit 1883 fanden auf dem Oktoberfest Radrennen statt, um die Jahrhundertwende entstanden zahlreiche Radsportvereine und vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Stadt an die zehn Radrennbahnen. Wie gut, dass die Robls 1886 nach München übersiedelt waren, wo sie fast jedes zweite Jahr die Wohnung wechselten, wie die Ausstellung zeigt. Wer arm war, besaß eben nur wenige Möbel und Kleidungsstücke. Und die wenigen Habseligkeiten ließen sich leicht per Handwagen zur nächsten, günstigeren Wohnung schaffen. Therese Robl, die ihren Mann Gottfried überlebte, brachte es auf rund 15 Umzüge, bis die Odyssee für sie in Feldmoching, am Angerweg (heute Schwarzhölzlstr. 48, das Haus steht noch), zunächst endete. Dort hatte ihr Thaddäus 1906 ein stattliches, frei stehendes Haus bauen lassen, die „Villa Thaddy“, wie an der Hauswand stand. Doch greifen wir der Chronologie nicht vor.
Thaddäus lässt die Steine fahren und schwingt sich aufs Rad
Obwohl ihn die Eltern eine Ausbildung als Steinsetzer machen ließen – das hieß im Sommer Straßen pflastern und im Winter Büroarbeiten verrichten –, ließ ihn der Radsport nicht mehr los. Beharrlich verfolgte Thaddäus den einmal eingeschlagenen Weg. Mit 17 Jahren begann er aktiv, Radrennen zu fahren. Er nahm beispielsweise an Fernfahrten über 500 Kilometer teil, etwa Moskau-Petersburg, Wien-Salzburg oder eine Tour durch Mitteldeutschland. Schon als Amateur war Robl sehr erfolgreich. Er gewann zahlreiche Rennen – wie ein Foto in der Ausstellung aus dem Jahr 1895 belegt. Darauf ist Thaddy Robl zu sehen, die Brust über und über dekoriert mit Medaillen.
1896 wechselte er ins Lager der Berufsfahrer und fuhr anfangs vor allem Bahn- und Tandemrennen mit Gustav Freudenreich, der später bei einem Rennen tödlich verunglückte. 1897, als er sich aufgrund der vielen eingeheimsten Siegerprämien finanziell bereits besser stand, wandte er sich dem damals äußerst beliebten Dauerfahren, dem sogenannten Stehersport zu. Für alle, die diese Sportart nicht kennen: Bei diesen Bahnrennen nutzen die Radfahrer, die Steher, den Windschatten der vorausfahrenden Crew, Schrittmacher genannt. Dabei durfte der Steher weder zu nahe ans damals in keinster Weise geschützte Hinterrad des Schrittmachers kommen – ein meist tödlicher Sturz wäre die Folge gewesen. Er durfte aber auch nicht zu weit weg sein von der Rolle des Schrittmachers, da er sonst nicht mehr von dessen Windschatten profitiert hätte. Der Fachmann nannte das „von der Rolle kommen“ oder „ins Schwimmen geraten“.
100 km/h auf dem Fahrrad: Schrittmacher machen’s möglich
Die Schrittmacher fuhren anfangs gewöhnliche Tandems, Triplets oder Quadruplets (speziellen Viererrädern). Wenig später genügten mit Manneskraft betriebene Schrittmacher nicht mehr. Man baute in die Räder die kurz zuvor erfundenen Akkus ein. Damit waren Geschwindigkeiten um die 50 km/h möglich, wie Radsportexperte Walter Lemke zu berichten weiß. Er hat zusammen mit Martin Schreck aus der Lerchenau die Ausstellung konzipiert und aufgebaut. Der Akku mit seiner geringen Haltbarkeit wurde bald darauf vom Ottomotor abgehängt, das motorisierte Fahrrad war erfunden. Ein solcher „Fuhrpark“ kostete natürlich, weshalb ihn sich nur erfolgreiche Radler wie Thaddäus Robl leisten konnten. Damit waren dann Geschwindigkeiten um die 100 km/h möglich. Thaddy Robl etwa kam 1906 auf der neuen Radrennbahn in München-Milbertshofen, die in etwa auf dem Areal von BMWs heutigem Forschungszentrum FIZ stand, auf 91,893 km/h!
Der Begriff „Steher“ leitet sich übrigens vom englischen „stayer“ ab, was so viel heißt wie „jemand mit Ausdauer“. Man verwandte den Begriff zunächst vor allem für Pferde, die über lange Strecken gingen. Auf gut Deutsch heißen diese Rennen „Dauerrennen“.
Mit eiserner Disziplin an die Weltspitze des Radgeschehens
Ausdauer, Zähigkeit und eiserne Disziplin hatte Thaddäus Robl schon in der Kindheit, in der Zeit seiner Krankheit, an den Tag gelegt. Spätestens ab 1900 war er in seinem Sport an der Spitze. Er heimste Preise um Preise ein, er gewann auf Bahnen in Europa und Australien. In dieser Zeit verdiente er von allen Berufsfahrern das meiste Geld. Auf der Internetseite www.cycling4fans.de/index.php?id=2269 kann man die lange Liste seiner Erfolge nachlesen. 1906 etwa belegte er beim Stundenrekordmatch in Dresden, beim Stundenfahren in Leipzig, beim Internationalen Steherpreis in Leipzig und dem Großen Goldenen Rad von Zahlendorf jeweils den 1. Platz. Er gewann den Großen Saxonia-Preis in Plauen, den Großen Einweihungspreis der München-Milbertshofener Rennradbahn (diese schnellste und modernste Radrennbahn der Welt hatte ein Oval von 666,66 Meter und fasste mehr als 38.000 Besucher. Sie wurde nach nur zehnjährigem Betrieb, 1916/17, wieder abgerissen)…
Dass Thaddäus Robl diese Erfolge mit härtester Disziplin gegen sich selbst errang, belegt ein Bild der Ausstellung, zu dem Walter Lemke Folgendes erzählt: „Robl war jemand, der sehr oft stürzte und sich dabei regelmäßig Hautaufschürfungen, Prellungen und Brüche zuzog. Das Foto zeigt Robl, wieder einmal Kopf, Bein, Arm voll ‚verpflastert’ und verbunden. Doch das hinderte ihn nicht, gleich am Tag nach dem schweren Sturz am 1. Pfingstfeiertag 1903 (in der 23. Runde beim „Goldenen Rad von Magdeburg“) in Brandenburg an den Start zu gehen. Während des Rennens riss er sich dann sämtliche Verbände herunter und gewann das 50-Km-Rennen. Sein knapper Kommentar: ‚A Viech muss ma sein.’“
Vom frühen Höhenflug und dem jähen Absturz
Im Winter von 1909/1910 wandte sich Robl – die Radfahrerkarriere ging alterbedingt dem Ende zu – wie so viele ehemalige Rennfahrer der Aviatik (Luftschifferei/Luftfahrt) zu und erwarb Ein- und Doppeldecker-Flugapparate, mit denen er Flugvorführungen wagte. Am 18. Juni 1910 stieg er in Stettin bei einem Flugwettbewerb trotz der Warnung der Veranstalter – er wollte die Zuschauer nicht enttäuschen – bei böigem Wind auf. Nach einem Gleitflug stürzte er in die Tiefe und konnte nur noch tot unter den Trümmern seiner Maschine geborgen werden. Genickbruch. Damit belegt Thaddäus Robl noch einmal einen 1. Platz, auf den er vermutlich gern verzichtet hätte: Er gilt als erstes Todesopfer in der deutschen Chronik des zivilen Motorflugs.
Robls Leiche wurde nach München überführt und dort am 26. Juni unter großer Beteiligung der Bevölkerung im Südfriedhof beerdigt. Die Grabstelle existiert noch heute (41-10-8), unterhalten von der Stadt München. 1988 haben Grabräuber auch sein altes Porzellanfoto gestohlen. (Walter Lempke hat ein neues Bild anbringen lassen.) Thaddäus Robl starb gänzlich verarmt. Mit seinem luxuriösen Lebensstil, seinem Hang zu schnellen Gefährten und mit seiner Spielsucht hatte er das ganze Vermögen durchgebracht. Seine Mutter musste das Haus nördlich von Feldmoching bald verkaufen und zog in die Nähe des Feldmochinger Bahnhofs. Sie starb im August 1915 und wurde auf dem Feldmochinger Kirchenfriedhof beerdigt.
Doping gab es schon in der guten alten Zeit
Noch eine Anmerkung zum Schluss: Wer meint, damals, in der guten alten Zeit, hätte es kein Doping gegeben, den müssen wir enttäuschen. Ausstellungsmacher und Radsportexperte Walter Lemke, der früher selbst Radrennen gefahren ist und ein Buch über „den erfolgreichsten Münchner Sportler“, Thaddäus Robl, schrieb („da können’s den Beckenbauer glatt vergessen“), erzählte, dass es auch früher unter den Berufssportlern eine Art von Doping gab, denn interessiert hat damals das Thema keinen. „Die Burschen haben sich beispielsweise mit Arsen gedopt. Belgische Radrennfahrer etwa haben sich Hühner gehalten und diese mit Arsen gefüttert. Da die Rennfahrer ständig Arsen-verseuchtes Hühnerfleisch aßen, wurden sie so immun gegen das Gift, dass sie immense Dosen zu sich nehmen konnten“, so Lemke. Arsen galt im 19. Jahrhundert als eines der bedeutendsten Asthmamittel. Es gab die Mär, wer Arsen in Kombination mit Tabak rauche, bekomme Lungen so stark wie Blasebälge – nicht schlecht für Radrennfahrer. Heute ist wissenschaftlich erwiesen, dass Arsen zur verstärkten Bildung der sauerstofftransportierenden roten Blutkörperchen führt. Auch hat es eine stimulierende Wirkung, die sich im 17. Jahrhundert schon Bewohner in manchen Alpenregionen zunutze machten, die ständig Arsenikessen zu sich nahmen.